Fritz Lang über Weimarer Film (1926)

In 1926 äußerte sich der deutsche Regisseur Fritz Lang über die Entwicklung des Weimarer Films und die Unterschiede zwischen der deutschen und der amerikanischen Filmindustrie:

„Es gab vielleicht noch nie eine Zeit, die so entschlossen war wie unsere, nach neuen Ausdrucksformen zu suchen. Grundlegende Revolutionen in Malerei, Skulptur, Architektur und Musik sprechen eloquent dafür, dass die Menschen von heute ihre eigenen Mittel suchen und finden, um ihren Gefühlen künstlerische Form zu verleihen. Der Film hat einen Vorteil gegenüber allen anderen Ausdrucksformen: seine Freiheit von Raum, Zeit und Ort. Was es reicher macht als die anderen, ist die natürliche Ausdruckskraft, die seinen formalen Mitteln innewohnt. Ich behaupte, dass der Film kaum über die erste Stufe seiner Entwicklungsleiter hinausgegangen ist und dass er umso persönlicher, stärker und künstlerischer wird, je eher er auf alle übertragenen oder geliehenen Ausdrucksformen verzichtet und sich in die unbegrenzten Möglichkeiten stürzt der rein filmischen.

Die Geschwindigkeit, mit der sich der Film in den letzten fünf Jahren entwickelt hat, lässt alle Vorhersagen darüber als gefährlich erscheinen, denn sie werden wahrscheinlich alle sprunghaft übertreffen. Film kennt keine Ruhe. Was gestern erfunden wurde, ist heute schon überholt. Dieser ununterbrochene Drang nach neuen Ausdrucksweisen, dieses intellektuelle Experimentieren und die Freude, die die Deutschen an der Überanstrengung haben, scheinen mich zu bestärken, dass der Film als Kunst erst in Deutschland seine Form finden wird. Denn weder mangels Experimentierfreude, noch mangels Bestreben nach unablässiger formaler Erfindung (so vertrauenswürdig und fruchtbar das Alte auch ist), noch ganz besonders mangels ununterbrochener Überanstrengung im Namen von Ergebnisse, die nur mit dieser besonders deutschen Art von Ausdauer und Vorstellungskraft erzielt werden können, von denen, die von der ersten Idee an von der Arbeit besessen sind.

Die gigantischen menschlichen und finanziellen Reserven der amerikanischen Filmindustrie hat und wird Deutschland nie zur Verfügung haben. Zum Glück, denn genau das zwingt uns, ein rein materielles Ungleichgewicht durch eine intellektuelle Überlegenheit auszugleichen. Tausende Beispiele stützen meine Theorie, aber ich möchte nur eines herausgreifen. Die amerikanische Kinofotografie gilt dank ihres noch nie dagewesenen Aufnahmegeräts, ihres Filmmaterials und der brillanten Arbeit ihrer Techniker als die beste Fotografie der Welt. Aber die Amerikaner haben immer noch nicht verstanden, wie sie mit ihrer großartigen Ausrüstung das Wunder der Fotografie in das Reich des Geistes heben können. das heißt zum beispiel, dass die konzepte von licht und schatten nicht bloße stimmungstransporter sein sollen, sondern faktoren, die zur handlung beitragen.

Ich hatte kürzlich die Gelegenheit, einem amerikanischen Techniker einige Szenen aus Metropolis zu zeigen, in denen der Strahl einer elektrischen Taschenlampe die Verfolgung eines jungen Mädchens durch die Katakomben von Metropolis beleuchtete. Dieser Lichtstrahl durchbohrte die gejagte Kreatur wie die scharfen Klauen eines Tieres, weigerte sich, sie aus ihrem Griff zu befreien, und trieb sie unablässig vorwärts bis zum Punkt völliger Panik. Es brachte den liebenswürdigen Amerikaner zu einem naiven Geständnis: „Das können wir nicht!“ Natürlich konnten sie es. Aber die Idee kommt ihnen nie in den Sinn. Für sie bleibt das Ding ohne Wesen, unbelebt, seelenlos.

Glauben Sie dagegen, dass der große deutsche Dramatikfilm der Zukunft eine ebenso wichtige Rolle spielen wird wie der menschliche Charakter. Schauspieler werden keinen Raum mehr einnehmen, den sie scheinbar versehentlich betreten haben. Vielmehr wird der Raum so konstruiert, dass die Erfahrungen der Charaktere nur darin möglich erscheinen, nur aufgrund dessen logisch erscheinen. Ein Expressionismus der subtilsten Vielfalt wird Umgebung, Eigenschaften und Handlung aneinander anpassen, so wie ich allgemein glaube, dass sich die deutsche Filmtechnik entlang von Linien entwickeln wird, die sie nicht nur auf das Niveau eines optischen Ausdrucks der Charaktere heben. Handlungen, aber auch die Umgebung des jeweiligen Darstellers zum Träger eines eigenständigen Trägers der Handlung und vor allem der Seele des Charakters erheben. Wir versuchen bereits, Gedanken zu fotografieren, dh visuell wiederzugeben; Wir versuchen nicht länger, den Handlungskomplex eines Ereignisses zu vermitteln, sondern den ideellen Inhalt der Erfahrung aus der Perspektive desjenigen, der sie erlebt, sichtbar zu machen.

Das erste wichtige Geschenk, für das wir dem Film zu danken haben, war in gewissem Sinne die Wiederentdeckung des menschlichen Gesichts. Der Film hat uns das menschliche Gesicht mit beispielloser Klarheit in seinem tragischen, grotesken, bedrohlichen und gesegneten Ausdruck offenbart. Das zweite Geschenk ist das der visuellen Empathie: im reinsten Sinne die expressionistische Darstellung von Denkprozessen. Wir werden nicht länger rein äußerlich an der Arbeit der Seele der Figuren im Film teilnehmen. Wir werden uns nicht länger darauf beschränken, die Auswirkungen von Gefühlen zu sehen, sondern sie in unserer eigenen Seele erleben, vom Moment ihres Beginns an, vom ersten Aufblitzen eines Gedankens bis zum logischen letzten Abschluss der Idee. “